Rez.: Toponyme. Standortbestimmung und Perspektiven

Toponyme. Standortbestimmung und Perspektiven, hg. von Kathrin Dräger, Rita Heuser und Michael Prinz (= Reihe Germanistische Linguistik, Band 326). Berlin-Boston: deGruyter 2021, 270 S., 28 Abb., 4 farbige Abb., 23 Tabellen. – ISBN: 978-3-1107-2113-3, Preis: EUR 99,95 (DE).

Rezensiert von Martin Hannes Graf, Zürich

Ausgangspunkt für die Zusammenstellung der Beiträge des hier zu besprechenden Sammel- bzw. Tagungsbandes (denn er geht auf die gleichnamige Mainzer Namentagung von 2017 zurück) ist die Feststellung, dass die germanistische Ortsnamenforschung „in jüngerer Zeit“ von einer „gewissen Marginalisierung“ betroffen sei, während gleichzeitig „in zahlreichen akademischen Nachbardisziplinen“ Ortsnamen eine wichtige Rolle spielen würden (S. V). Die „Irritation über diese erstaunliche Diskrepanz“ veranlasste also die im Titel genannte „Standortbestimmung“. Herausgekommen ist ein sehr lesenswertes Buch mit größtenteils sehr gut zum Tagungsthema passenden Beiträgen, die die HerausgeberInnen im Vorwort (S. V–VIII) gewissenhaft zusammenfassen. Hier wird auch eine Reihe programmatischer Fragen formuliert, auf die die Beiträge „zahlreiche Antworten“ liefern würden, nämlich (S. V): „Lassen sich für die toponomastische Forschung neue Gegenstände, Fragestellungen, Perspektiven und Methoden identifizieren, welche die etablierten Ansätze sinnvoll ergänzen? Gibt es Schnittstellen zu Nachbardisziplinen, über die weiterführende Forschungsvorhaben angestoßen werden können? Wie lassen sich mögliche toponomastische Innovationsfelder mit traditionellen Fragestellungen gewinnbringend integrieren?“ Auf diese Fragen finden die Autorinnen und Autoren unterschiedliche Antworten. Explizit mit Bezugnahme auf das Tagungs- bzw. Bandthema tun dies aber nur die wenigsten; herauszuheben sind diesbezüglich insbesondere der exzellente forschungsgeschichtlich orientierte Aufsatz von Michael Prinz sowie der Beitrag von Albrecht Greule. Möchte man einen Gesamteindruck formulieren, der sich hinsichtlich der Beantwortung der Leitfragen ergibt, so ist wohl festzustellen, dass es nicht an neuen Gegenständen und neuen Fragestellungen mangelt, dass aber die „etablierten Ansätze“ kaum mehr eine Rolle spielen – jedenfalls sind keine starken Anknüpfungspunkte ersichtlich. Innovationsfelder sind vorhanden (vgl. die Auflistung im Beitrag von Prinz), jedoch mehr oder weniger abgekoppelt von bisherigen, eher philologisch ausgerichteten Forschungsschwerpunkten und damit auch losgelöst vom öffentlichen Interesse. Dies betont freundlich, aber explizit Christian Zschieschang im letzten Beitrag des Bandes. Vielleicht könnte man mit Rückgriff auf diesen Sachverhalt eine weitere „erstaunliche Diskrepanz“ formulieren, die die germanistische Toponomastik ausmacht: Sie fasst Fuß in linguistischen Teildisziplinen (der Germanistik), in denen Eigennamen bisher bestenfalls eine marginale Rolle spielten, und holt sich damit zunehmend die akademische credibility zurück, verliert damit aber auch ein Stück weit gesellschaftliche Relevanz, was, laut Zschieschang, „insofern nicht gering zu schätzen“ sei, „als wissenschaftliche Forschung zum überwiegenden Teil mit öffentlichen Geldern finanziert“ werde (S. 250).

Zu den einzelnen Beiträgen:

Michael Prinz: Germanistische Toponomastik gestern und heute. Eine forschungsgeschichtliche Annäherung (S. 3–25)
In seinem souveränen Einleitungsaufsatz (gleichzeitig dem einzigen unter dem Bereichstitel I: „Forschungsgeschichte“) skizziert der Autor eine kurze Forschungsgeschichte der germanistisch orientierten Toponomastik, wobei der Fokus eindeutig auf den – angesichts der über hundertfünfzigjährigen Tradition der Disziplin – jüngsten Entwicklungen der letzten ca. 25 Jahren liegt. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die heutige Toponomastik ein weitgehend marginales Dasein in der germanistischen Linguistik friste. Besonders die historisch-philologische Namenlexikographie drohe durch die Marginalisierung an den Universitäten insular zu werden, wobei nicht zuletzt die Abkoppelung von der historischen Lexikographie (als Referenzdisziplin) augenfällig geworden sei. Stellt der gesamte Band eine „Standortbestimmung“ mit dem deutlich spürbaren Wunsch nach breiterer innerdisziplinärer Akzeptanz der Namenforschung dar, so ist Prinz’ diesbezüglicher Beitrag dahingehend zu lesen, dass der Zeitpunkt für eine „Revitalisierung der germanistischen Toponomastik“ (S. 17) vor allem darum günstig sei, weil zahlreiche theoretisch und methodisch bereichernde Neuansätze aus anderen Forschungsdisziplinen diese anzustoßen vermöchten. Er nennt Spatial Turn, Critical Toponymies und Cognitive Geography, die insbesondere auf die Sozioonomastik befruchtend eingewirkt hätten. Im Hinblick auf die Germanistik seien besonders inoffizielle Toponyme, linguistic landscapes und die Kolonialtoponomastik Forschungsfelder, die neue Impulse zu geben vermochten. Um dem Sammelband und seinem Anspruch gerecht zu werden, nennt Prinz aber explizit auch noch die (weiteren) spezifischen Forschungsgebiete, denen die AutorInnen des Bands verpflichtet sind. Was den Beitrag besonders wertvoll macht, ist dessen auf Ausgleich bedachter genereller Duktus, insofern nicht mit Gegenkritik auf (teils berechtigte) Kritik aus anderen Disziplinen reagiert wird.

Rüdiger Harnisch: Von Knappenberg zu Knappetsberg oder: Auf dem Wege zu einem onymischen Affix? Das e(r)ts-Formativ als Ergebnis eines Verstärkungsprozesses (S. 29–42)
Der namengrammatische Aufsatz (der den Teilbereich II: „Namengrammatik“ eröffnet) über die Bildung und das Verhalten eines onymischen Markers passt besonders gut in den Band, da er ein Phänomen verhandelt, das in der Anthroponomastik durch Damaris Nübling bereits gewinnbringend analysiert wurde. Die Prozesse von Reanalyse und Katalyse morphologischer Einheiten bzw. Grammatikalisierung und Derivationalisierung werden dabei empirisch und theoretisch einleuchtend sowie graphisch übersichtlich (in tabellarischen Schemata) dargestellt. Der Beitrag entstand im Rahmen eines universitären DFG-Projekts zu Typologie und Theorie der Remotivierung und dokumentiert damit wenigstens implizit, wie hochgradig relevant die Betrachtung (top-)onomastischer Phänomene im größeren Rahmen der germanistischen Linguistik ist.

Anne Rosar, Annika Semmler: Appellativische Bestandteile in ausländischen Fluss- und Bergnamen (S. 43–64)
„Neue Perspektiven für die toponomastische Forschung“ erhoffen sich die beiden Autorinnen mit einer korpuslinguistischen Untersuchung, in der geklärt wird, wie sich (deutsche) appellativische Bestandteile in (ausländischen) Berg- und Flussnamen (Kilimandscharo-Berg, Nil-Fluss u. ä.) verhalten. Ausgangspunkt ist die Hypothese, dass der Gebrauch derartiger Gattungseigennamen mit sinkender Bekanntheit der Namen zunimmt. Der gut gegliederte, methodisch einwandfreie Beitrag, der wie der vorangehende unter dem Bereichstitel II („Namengrammatik“) läuft, liefert zwar keine spektakulären Ergebnisse (die Mehrheit der untersuchten Namen wird ohne appellativischen Zusatz gebraucht; wenn mit, dann eher die Flussnamen in Form von Determinativkomposita; bei Bergnamen stehen zwecks „Gestaltschonung“ die appellativischen Zusätze eher vor dem Eigennamen; die Eingangshypothese trifft nur auf Flussnamen zu), demonstriert aber, dass in der Toponomastik innovative, originelle Fragestellungen unter Zuhilfenahme zeitgemäßer Methodik (Korpusanalyse) möglich sind. Die Materialzusammenstellung im Anhang lässt überdies Raum für weitergehende Interpretationen.

Verena Ebert: Koloniale Mikrotoponomastik: Ein Modell für die Erforschung sekundärer Straßennamen? (S. 67–86)
Den Bereich III („Benennungsstrategien, Orientierungssysteme und Namenlandschaften“) eröffnet Verena Ebert mit einem dicht geschrieben, selbstbewussten Beitrag zu einem „Stiefkind der Onomastik“ (S. 69, 82), der Erforschung sekundärer Straßennamen. Mit dem spezifischen Blick auf koloniale Mikrotoponyme in einer ortsübergreifenden Perspektive (und damit prononciert das Kölner Großprojekt „Kulturgeschichte der Straßennamen“ kritisierend) streicht die Autorin das Potenzial der vergleichenden Kolonialtoponomastik als außerordentlich schlagkräftig heraus, „weil damit über lokale Einzelbetrachtungen hinaus abstrahierende Fragestellungen nach der sprachlich-diskursiven Fixierung von Gewissheiten im (Alltags-)Raum eingenommen werden können: Es geht dabei nicht um das Profil singulärer Namen, sondern um die Verzahnung onomastischer Untersuchungsgegenstände mit innovativen Fragestellungen kontextorientierter Diskurslinguistik“ (S. 73). Ob diesem Ansatz effektiv „eine modellbildende Rolle für die zukünftige Erforschung kommemorativer Straßennamen in der germanistischen Onomastik“ (S. 82) zukommt, wird sich erweisen. Eine interessante und vielversprechende Perspektive bietet er allemal.

Julian Jarosch, Lena Späth: Toponyme einer nomadischen Gesellschaft – Orientierung in einer ariden Landschaft. Chancen und Möglichkeiten digitaler Toponomastik am Beispiel der Retrodigitalisierung mit Wikisource (S. 87–108)
Der Titel des Beitrags, der sich mit der Namengebung der Tuareg befasst, mag zunächst nicht unmittelbar einsichtig machen, wie er in den vorliegenden Band passt (der sich ja explizit um eine Standortbestimmung der germanistischen Toponomastik bemüht). Sein Fokus aber – die Frage, wie Namen und Namengruppen in ihrem komplexen Verhältnis zu Denotaten als Orientierungsinstrumente dienen – könnte Vorbildcharakter haben für ähnliche Untersuchungen in Räumen, die nicht nomadisch geprägt sind. Das streichen die Autorin und der Autor jedenfalls schon im Abstract heraus, insofern die zu erwartenden „Erkenntnisse aufgrund ihrer Übertragbarkeit auch für die germanistische Toponomastik methodologisch wie onomastisch interessant“ seien (S. 87). Der hervorragend geschriebene Aufsatz operiert auf einem methodisch sehr hohen Niveau und löst das Versprechen der Operationalisierbarkeit der Ergebnisse für nicht nomadisch geprägte Gesellschaften wohl ein. Tatsächlich sind Fragen, die das Zusammenspiel von Gedächtniskapazität, toponymischem Wissen und Namenverwendung betreffen, auf so vielen Ebenen von Belang, dass nur zu hoffen ist, dass man mit digital verfügbaren Namensammlungen auch im deutschsprachigen Raum künftig Perspektiven wie die hier beschriebenen in den Blick nimmt.

Theresa Schweden: Zwischen Toponym und Anthroponym. Ein toponomastischer Ansatz zur Analyse dörflicher Hausnamen als geographisches Referenzsystem (S. 109–127)
Die Forscherin legt hier eine ausgezeichnete empirische Studie vor, die auf der Basis eines sorgfältig erarbeiteten Namenkorpus zeigt, dass die bisher vorwiegend als Anthroponyme aufgefassten dörflichen Hausnamen (da der Benennungshintergrund meist eine Personenbezeichnung ist) in Südwestdeutschland starke Bezüge zu Toponymen aufweisen, ja dass eine konzeptuelle Trennung von namentragender Person und ihrer Wohnstätte oft gar nicht stattfindet. Die Autorin betont zu Recht, dass diese Unschärfe in der vorindustriellen Sicht dessen lag, was als Familie aufgefasst wurde: das Haus als räumliches Substrat der Personengemeinschaft, oder, anders gesagt: Die Familie ist nichts anderes als die Hausgemeinschaft, und diese ist über den zentralen Stellenwert des Gebäudes als Produktionsmittelpunkt eng an das Haus selbst geknüpft und in der sprachlichen Wahrnehmung mit diesem identisch. Ihr Desiderat als Fazit kann, wenn man es etwas weiter fasst, stellvertretend für einen generellen Perspektivenwechsel in der Onomastik stehen (und damit für die Aktualität des zu besprechenden Bandes): „Ein Desiderat bleibt, die Analyse von HausN zu vertiefen, künftig den Fokus mehr auf ihren Gebrauch und ihre Diachronie in Einbeziehung sozialgeschichtlicher Erkenntnisse als auf Motivik und Etymologie zu legen […].“ (S. 125). Gleichwohl bietet dieser Ansatz, der hier exemplarisch für sieben Ortspunkte im südwestdeutschen Raum durchgeführt wurde, das Potenzial, umgekehrt auch die Etymologie von Personennamen zu befruchten; es sei dem Rezensenten darum folgende Bemerkung gestattet: Wenn etwa die außerordentlich zahlreichen rätoromanischen Familiennamen vom Typus „Ca- (< casa ‘Haus’) + [Rufname]“ heute eindeutig als Anthroponyme aufgefasst werden müssen, so dürften sie sich in einer (sozial-)historischen Perspektive als eigentliche Gebäudebenennungen erweisen, die ihrerseits jedoch ursprünglich die Hausgemeinschaft und die Zugehörigkeit zu dieser meinen.

Inga Siegfried-Schupp: Zur Erhebung inoffizieller Ortsnamen (S. 128–139)
Eine von der Forschung weitestgehend unbemerkte Toponymklasse nimmt Inga Siegfried in den Blick: inoffizielle Ortsnamen, also Ortsnamen, die vor allem in urbanen Gemeinschaften, halboffiziell und im mündlichen Gebrauch in spezifischen Namennutzergruppen vorkommen. Die Autorin klassiert diese Ortsnamen anhand ihres im Rahmen des Namenbuchs der Stadt Basel erhobenen Materials, präsentiert die Erhebungsmethode, problematisiert dieselbe und stellt fest, dass die Hauptschwierigkeit bei der Erhebung derartiger Ortsnamen vor allem das Fehlen einer Rückgriffsmöglichkeit auf objektive Quellen darstelle (S. 137); eine weitergehende Erhebung sollte daher gezielt und gruppenspezifisch und vor allem auch mit eher qualitativ ausgerichteten Strategien sowie interaktionalen Einzelstudien (S. 138) geschehen. Weiters stellt die Autorin fest, dass gerade die Methoden der linguistischen Anthropologie und Ethnomethodologie, die in früheren Studien wichtige Ergebnisse zu einem stärker kontextgebundenen Eigennamengebrauch zutage gefördert hätten, auch für die Erhebung und Analyse städtischer inoffizieller Ortsnamen dienlich sein könnten. Siegfried-Schupps Beitrag ist ein weiteres gutes Beispiel für den von Prinz (s. o.) in Aussicht gestellten günstigen Moment einer Revitalisierung der germanistischen Toponomastik.

Irmtraut Heitmeier: Toponymie des Wandels – oder wie entsteht eine Namenlandschaft? Das frühmittelalterliche Bayern als Fallbeispiel (S. 140–176)
Einer auf den ersten Blick eher traditionellen Methode der Namenforschung folgt die Historikerin Irmtraut Heitmeier, die der alten Frage der frühmittelalterlichen Besiedlung Bayerns im umfangreichsten Beitrag dieses Bandes nachspürt. Der mit großer Sachkenntnis und am Puls der Forschung operierende Beitrag verbindet Erkenntnisse aus Geschichtswissenschaft, Archäologie und Namenforschung zu einer Gesamtschau und einer Neueinschätzung jener alten Frage. Heitmeier kommt mit guten Gründen zum Schluss, dass die frühmittelalterliche Namenlandschaft, wie sie sich heute dem Betrachter präsentiert, mitnichten ein Endzeitszenario vom Übergang von der Spätantike ins frühe Mittelalter reflektiert (in dem – vereinfacht gesagt – eindringende Germanenstämme die anwesenden Romanen komplett verdrängt haben sollen). Vielmehr dürfe an vielen Orten von einer zumindest rudimentären Bevölkerungskontinuität ausgegangen werden, die auch die Siedlungen betreffe. Neu an dieser Sichtweise ist insbesondere, dass, ausgehend von den Namen, eine regelrechte bajuwarische Raumorganisation stattgefunden haben muss, und zwar auf den bestehenden Strukturen. Der Beitrag zeigt, dass der Blick auf Strukturen und Muster in der Namenlandschaft durchaus lohnt, und dass es auch auf alte und dutzendfach behandelte Fragen noch immer neue und gute Antworten geben kann. Denn auch das ist eine Perspektive: Historische (und philologische) Toponomastik im Sinne einer Hilfswissenschaft zuhanden der Siedlungs- und Regionalgeschichte ist keine vorgestrige, „unoriginelle“ Forschungstradition (vgl. den Beitrag von Prinz, S. 8 mit Fußnote 9), sondern, wenn so gehandhabt wie von I. Heitmeier, eine mit außerordentlich großem Erkenntnispotenzial.

Albrecht Greule: Polyonymie in der Toponymie (S. 179–188)
Mit einer erfreulich expliziten Bezugnahme auf das Gesamtthema des Bandes eröffnet der Autor seinen Beitrag (und gleichzeitig den Bereich IV: „Mehrnamigkeit/Exonyme“), der sich dem Problem widmet, dass ein und derselbe Ort synchron und diachron teils zahlreiche unterschiedliche Namen trägt. Der vorwiegend auf Definitorisches, Forschungsgeschichte und Darstellungsfragen gerichtete Fokus gibt der zukünftigen Erforschung des Phänomens eine gründliche Basis. Er legitimiert sie gleichzeitig, indem im Schluss zwei wichtige Punkte angesprochen werden: „Wenn Ortsnamen ein zu schützendes Kulturgut sind, dann gehört dazu auch die Dokumentation der Mehrnamigkeit eines Ortes, wo sie vorhanden ist oder war“ (S. 187). Und ein politisches Argument für die vertiefte Analyse von Polyonymie ist nicht zuletzt das Konfliktpotenzial, das Mehrnamigkeit birgt: „Die fundierte Kenntnis der Mehrnamigkeit und die Erklärung ihres Zustandekommens im Einzelfall sind wichtig und hilfreich, um Konflikte zu entschärfen oder gar nicht aufkommen zu lassen“ (ebd.).

Daniel Kroiß: Herbipolensis, Prasinopolitanus, de Cornu cervino. Die Latinisierung und Gräzisierung deutscher Siedlungsnamen in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Matrikeln der Universität Heidelberg (S. 189–208)
Einen ähnlichen Themenbereich wie A. Greule behandelt D. Kroiß, wobei es dem Autor hier weniger um allgemeine Fragen geht denn um den konkreten Gebrauch von latinisierten und gräzisierten Ortsnamen (Herkunftsnamen) und Personennamen bzw. ihrer Bestandteile in den Heidelberger Universitätsmatrikeln. Die gründliche empirische Untersuchung besticht durch den souveränen Umgang mit der großen Datenmenge (1647 Immatrikulationen in 15 Zeitabschnitten) und ihrer sorgfältigen Interpretation über einen 400 Jahre umfassenden Zeitraum (1400–1800). Erstmals sind damit belastbare Aussagen über dieses eigentlich altbekannte und stets vor allem als Kuriosum wahrgenommene Phänomen möglich. So zeigt sich etwa, dass Ortsnamen insgesamt sehr viel seltener in ihrem vollständig latinisierten Äquivalent erscheinen, als man dies gemeinhin angenommen hat. Häufiger sind jedoch „nur geringfügig phonologisch oder graphematisch“ veränderte Ortsnamenschreibungen (S. 201). Dasselbe gilt für Personennamen, die interessanterweise in der Phase „nach der eigentlichen Blüte des Humanismus, in der die lateinische Bildungssprache am ciceronianischen Ideal geschult worden war und Griechischkenntnisse stark zugenommen hatten“ (S. 206), entstanden, also bis ungefähr 1700: Auch hier erreichen die Namen zwar „einen hohen Grad an Latinität“, wobei jedoch „der deutsche Namenkörper nicht oder nur minimal verändert“ wird, sondern lediglich um ein lateinisches Suffix erweitert wird (ebd.).

Holger Wochele: Agram, Beograd und København. Empirische Befunde aus einer Befragung zu Kenntnis und Verwendung von Exonymen (S. 209–222)
Ebenfalls dem Problemkreis Mehrnamigkeit ist der Beitrag des Romanisten H. Wochele gewidmet. Auf das überaus lesenswerte, sehr konzise Einleitungskapitel zum Thema Exonymengebrauch folgen die Befunde aus einer kleinen, nicht repräsentativen Umfrage unter Studierenden der Universität Jena, die zum Ziel hatte zu ermitteln, inwieweit den Studierenden sprachbedingte Formverschiedenheiten von Toponymen bewusst bzw. bekannt sind. Das Ergebnis ist wenig überraschend: Gelehrt werden für die „alten“ europäischen Hauptstädte im Schulunterricht offenbar hauptsächlich die deutschen (exonymischen) Formen (während die endonymischen Formen teils völlig unbekannt sind!). Die Hauptstadt-Namen der erst nach 1989 unabhängig gewordenen Länder werden dagegen vorwiegend in ihrer endonymischen Form realisiert, denn die Exonyme dürften, „wenn nicht explizit, so implizit immer noch stigmatisiert sein, da ihr Gebrauch mit dem Ausdruck politischer Inanspruchnahme und mit revanchistischem Denken konnotiert werden könnte“ (S. 220). Interessante Gedanken zu weiterführenden ähnlichen Experimenten werden abschließend formuliert.

Gerhard Rampl, Elisabeth Gruber, Claudia Posch, Gerald Hiebel: Toponomastik und Korpuslinguistik. Bergnamen im (Kon-)Text (S. 225–248)
Geradezu optimal erfüllt der Artikel der vier AutorInnen den Anspruch des Bandes als „Standortbestimmung“ – er eröffnet den abschließenden Bereich V: „Digitalisierung“ –, insofern in vielerlei Hinsicht auf aktuelle Forschungsschwerpunkte, Techniken, Praktiken, Standards usw. Bezug genommen wird. Die Erprobung der innovativen korpuslinguistischen Analysen an einem eigens für onomastische Zwecke (aufwendig) annotierten Korpus (die digitalisierten Jahrgänge 1869–1998 der Zeitschrift des Österreichischen Alpenvereins, insgesamt 2.670 Texte) zeigt sodann das Potenzial, das derartigen Methoden innewohnt. Darüber hinaus wird offensichtlich, dass es in linguistischer Hinsicht ganz zentral ist, auch die Funktion und das „Verhalten“ von Eigennamen in größeren Strukturen zu studieren. Der Aufsatz legt zu Recht viel Gewicht auf die methodischen (und technischen) Aspekte einer solchen onomastisch orientierten Korpuserstellung. In den anwendungsbezogenen Beispielen werden sodann erfreulicherweise die Resultate nicht nur im Hinblick auf ihre bloße Statistik dargeboten, sondern auch vor dem Hintergrund eines viel allgemeineren Wissens diskutiert: Die Software spuckt differenziert errechnete Zahlen aus – die linguistische Interpretation obliegt immer noch den spezialisierten WissenschaftlerInnen. So ist der signifikante Rückgang an Oronym-Nennungen im genannten Zeitraum an sich zwar schon ein interessantes Resultat, jedoch nur verständlich, wenn man weiss, dass die Zeitschrift sich thematisch vom „explorativen Alpinismus“ (S. 240) zu einem Organ mit allgemeineren „Themen wie Ausrüstung, Umweltschutz, Tourismus, Gletscherzustand“ (S. 241) usw. entwickelt hat.

Christian Zschieschang: Ortsnamenforschung im digitalen Zeitalter. Einige konzeptionelle Überlegungen (S. 249–265)
Mit dem Argument, das „öffentliche Interesse“ sei auf eine weitgehend traditionell operierende, historisch-philologische Toponomastik gerichtet (S. 250), diese hätte jedoch in Deutschland erst etwa die Hälfte aller Toponyme (gemeint sind Siedlungsnamen) bearbeitet, skizziert der Autor ein interessantes Datenbankmodell, das fähig wäre, „Forschungserträge der Namenkunde nicht nur zu speichern und zu präsentieren, sondern auch zu generieren“ (S. 261). Es würde eine flächendeckende digitale Erfassung bundesdeutscher Toponyme sicherlich beschleunigen und optimieren. Gleichwohl betont der Autor, dass nach wie vor viel regionale Arbeit notwendig sei. „Im wohlhabenden Deutschland sollte es“ aber „möglich sein, für eine letztlich überschaubare Anzahl, die sich vielleicht auf eine halbe Million Siedlungsnamen schätzen ließe, entsprechende Forschungen zu organisieren und zu finanzieren“ (S. 251). Der an pointierten Formulierungen nicht arme Beitrag trifft einen wichtigen Punkt: Was in der scientific community als altbacken, rückständig und überholt gilt (nämlich die Fokussierung auf die Etymologie von Namen), interessiert die Öffentlichkeit nach wie vor sehr. Wenn also das Schlagwort der gesellschaftlichen Relevanz, das für die Förderung von Forschungsprojekten gerne gebraucht wird, auch weiterhin nicht nur ein Lippenbekenntnis sein soll, so sind Initiativen, wie sie der Autor schildert, äußerst begrüßenswert: die Ermöglichung der philologischen Erschließung von Namenlandschaften auf einem modernen technischen (und selbstredend: wissenschaftlichen) Stand, wobei der Namenforscher, die Namenforscherin selbst bei der Konzeptionierung der technischen Grundlage mitzureden hat. Insofern handelt es sich um einen willkommenen Beitrag in dem Sammelband, der auch der traditionellen Toponomastik eine (prominente) Stimme verleiht.

Fazit

Der Band präsentiert sich als ausgewogene Mischung interessanter Beiträge, die zwar weniger eine effektive Standortbestimmung der (germanistischen) Toponomastik im 21. Jahrhundert darstellen denn vielmehr demonstrieren, dass Toponyme in sehr vielen, sehr unterschiedlichen Kontexten großes Untersuchungspotenzial besitzen. Es zeigt sich, dass es nicht mehr ausschließlich darum gehen muss, das Wesen der Toponyme als isolierte sprachliche Einheiten zu bestimmen, sondern dass es sich generell lohnt, größere Kontexte zu betrachten und diese daraufhin zu befragen, welche Rolle die Toponyme darin spielen, sei es im Hinblick auf Mehrsprachigkeit, große Textkorpora, syntaktische Zusammenhänge, geographische Orientierungssysteme, einzelne Textsorten usw.

Den handlichen Band, der sehr zu Recht in der prominenten und angesehenen „Reihe Germanistische Linguistik“ erschienen ist, beschließt ein gründliches Register (S. 267–270), eine noch immer außerordentlich nützliche Dienstleistung an die Leserin, den Leser, der noch ein Buch vor sich hat und dessen Text nicht bloß per elektronischen Suchbefehl nach bestimmten Stich- und Schlagwörtern durchsucht.

Empfohlene Zitierweise

Martin Hannes Graf: [Rezension zu] Toponyme. Standortbestimmung und Perspektiven, in: Onomastikblog [14.10.2021], URL: https://www.onomastikblog.de/artikel/ni-rezensionen/rez-toponyme/

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