Ein Ortsnamengeschwisterpaar in Leipzig

Ein Ortsnamengeschwisterpaar in Leipzig: Schleußig und Göbschelwitz 

Bernd Koenitz 

Die Erklärungen, die den Namen der jetzigen Ortsteile der Stadt Leipzig in den Deutsch-slawischen Forschungen zur Namen- und Siedlungsgeschichte Nr. 8 (Eichler/Lea/Walther 1960) gegeben wurden, sah man über ein halbes Jahrhundert großenteils mehr oder weniger unverändert fortgeschrieben (Eichler 1985-2009; HONSa; Eichler/Walther 2010). Eine der Ausnahmen bildet der Name der Stadt selbst – siehe zuletzt die Diskussion in den Namenkundlichen Informationen 107/108 (2016): 441-481. Relativ wenig verändert wurde und unwidersprochen blieb im wesentlichen die seinerzeitige (Eichler/Lea/Walther 1960: 82) Erklärung des Namens Schleußig: ehemaliges Dorf sw. Leipzig, 1891 zur Stadt Leipzig: 1397 Gunther Slisk; 1445 Slusk; 1481 Slißk; 1471/81 Sleysick; 1476 weße zcu Sleißig; 1478 wiße zu Sleißk; 1529 Schleissigk; 1542 Schleussi(n)g, Schleissigk; 1606 Schleußig – dial. [ʃlae̯sç] (Belege nach Eichler/Walther 2010: 231) (dialektale Form nach API adaptiert – B.K.). Die Beleggeschichte des Namens ist recht transparent, sie legt ziemlich klar eine altsorbische Grundform *Slizk ›glitschige Stelle‹ nahe, gleichlautend der nominalen Adjektivform Nominativ Singular Maskulinum aus späturslawisch *slizъkъ (tsch. slizký, poln. ślizki, sln. slizek, russ. slizkij) ›schlüpfrig, glitschig‹. Nicht zu bezweifeln ist, daß der Ortsname eine glitschige Stelle zwischen Weißer Elster und Pleiße meint. Nicht ganz auszuschließen ist jedoch eine Grundform *Slizsk, die zwar ebenfalls adjektivischer Natur wäre, aber nicht wie obenerwähntes ein Qualitätsadjektiv, sondern ein Beziehungsadjektiv zum Substantiv *sliz zur Grundlage hätte. Laut Machek (1968: 555) ist der Ausgangspunkt aller Formen des Etymons *sliz– wahrscheinlich das Substantiv, spätursl. *slizь Fem. oder *slizъ Mask., ›Schleim‹. Dessen Reflexe in den einzelnen Slawismen lauten tsch., slk. sliz, poln. śluz, russ. sliz‘, ukr. slyz, bg. sluz, sliz, skr., sln. sluz, wobei die Formen mit –u– laut Machek (a.a.O.) in der Bedeutung ›Schleim‹ sicher sekundär sind. Im Ober- und Niedersorbischen fehlen heute sowohl das Adjektiv *slizk– als auch das Substantiv *sliz. (Etwas irritierend sind die Angaben šliž ›(Hafer-)Schleim‹, buchsprachlich sliž ›Schleim‹, sližnaty ›schleimig‹ zum Obersorbischen insofern, als sie nur verstreut in einzelnen Wörterbüchern auftreten und in Schuster-Šewc HEW fehlen. Als abgeleitet von *sliz ›Schleim‹ wird dort [a.a.O.: 1315] nur das niedersorbische Verb sliznuś [se] ›schmelzen, zusammenschrumpfen [z.B. von Schnee, Butter]‹ genannt.)

Gegen die Annahme einer Grundform *Slizsk ist zu bedenken, daß anscheinend nirgends für sliz– neben ›Schleim‹ eine konventionelle Bedeutung ›glitschige Stelle‹ bezeugt ist, die man wohl für ein solches Oikonym voraussetzen sollte (›Siedlung bei einer glitschigen Stelle‹, nicht: ›Schleimsiedlung‹).

Eichler (1985-2009 III: 203) war zu recht davon ausgegangen, daß die Grundform „nicht ganz gesichert“ sei, als solche alternativ *Slizk-, *Sliźsk(o) bzw. *Sližk-, *Sližsk(o) ansetzend – zu *slizk- bzw. zu *sliž ›(ein Fisch)‹, tsch. slíž, oso. šliž ›Schmerle‹ – , merkte jedoch an, die Fischbezeichnung komme wohl für diesen Ort weniger in Betracht, und man beschränkte sich schließlich (HONSa II: 363; Eichler/Walther 2010: 232) wie schon in Eichler/Lea/Walther (1960: 82) – wohl wiederum zu recht – auf die Deutung von der Basis *sliz– als die wohl allein zutreffende. Die Möglichkeit einer mit –sk– gebildeten Grundform wurde ins Auge gefaßt, aber wohl nirgends besonders thematisiert.

Fast unverändert blieb bis jetzt die Deutung des Namens eines anderen Leipziger Ortsteils durch Ernst Eichler (Eichler/Lea/Walther 1960: 38), dessen heutige Form mit der von Schleußig kaum relevante Gemeinsamkeiten erkennen ließe: Göbschelwitz. Die Erklärung aus Eichler/Lea/Walther (a.a.O.) erfuhr hier beinahe nur eine Veränderung: die implizite Zurücknahme der Einschätzung, man könne die ursprüngliche slawische Ortsnamensform nicht mehr angeben – verbunden mit dem Bemühen, die seinerzeitigen tastenden Versuche der Ableitung von einem Personennamen wie etwa *Godisław, *Chotisław mittels Suffix –ici positiv fort- und festzuschreiben (mit der zusätzlichen Vermutung eines Personennamens *Chocl-) und die Belegreihe entsprechend zu interpretieren (Eichler 1985-2009 I: 145; HONSa I: 319; Eichler/Walther 2010: 172). Im Unterschied zur Belegreihe von Schleußig ist in der Tat die dieses Ortsnamens nicht transparent zu nennen: Göbschelwitz Dorf n. Leipzig nw. Taucha, seit 1997 zur Stadt Leipzig: 1417 Gozliz; 1450 Geuschelwicz; 1486 Gotzschelicz; 1541 Gosslytz; 1551 Gotzelwizs; 1660 Gebschelitzer Marck; 1696 Göbschelwitz – dial. [kɛpʃlwiʦ]. Der Rekonstruktion der Grundform sind zunächst die Belege <Gozliz> (1417) und <Gosslytz> (1541) zugrunde zu legen. Weitere Belege bis hin zur heutigen amtlichen Namensform enthalten als auffälliges Merkmal ein die erste Silbe abschließendes labiales Element, welches in den beiden oben herausgestellten Formen fehlt. Sein Auftauchen (HONSa a.a.O.: „… tzsch wurde durch bsch ersetzt“) bedürfte der Erklärung, und diese ergibt sich, indem man annimmt, daß es später geschwunden, also der Grundform und dem ursprünglichen Integrat immanent gewesen war: <Gozliz> (in HONSa I: 319 vermutete Rektifizierung zu *<Gozeliz> wohl unbegründet) ist zu lesen als *[go:ʦliʦ]/*[goṷʦliʦ] bzw. (siehe <Goss->) *[go:sliʦ]/*[goṷsliʦ]. Es ist damit weiter zurückzuführen auf phonologisches */gow(t)slits/ bzw. (←) */gow(e)(t)slis/, und diesem lag altsorbisch *Gowěsliz, Genitiv des pluralischen episkoptischen Bewohnernamens *Gowěslizi ›Leute, die Schleim sehr mögen‹ zum Verb*gowěti  ›anbeten, sehr mögen‹ und *sliz ›Schleim‹ (s.o.) zugrunde. Wahrscheinlich wurde von Anfang an der stammauslautende und im absoluten Auslaut wohl auch stimmlose s-Laut – auch unter dem Einfluß anderer Ortsnamen auf –itz – durch *-[ʦ] ersetzt. Im Integrat */gow(t)slits/ griff die sog. „meißnische Palatalisierung“ (Große 1957: 75-79): → */gɛ:w(t)slits/. Aus einer früh kontrahierten Form */gɛ:w(t)slts/ konnte bei überaus wahrscheinlichem Einfluß des nahen Podelwitz (1250 Podilwicz) durch falsche Rückbildung („Streckung“) */gɛ(:)w(t)slwits/ entstehen. Mit Verschiebung /s/ → /ʃ/ gibt der Beleg 1450 Geuschelwitz die entsprechende Entwicklungsstufe recht genau wieder: */gɛ(:)wʃlwits/. Daß der –w-Einschub vor –itz in anderem Munde auch ausbleiben oder rückgängig werden konnte, zeigt 1660 Gebschelitzer Marck. Die nicht ungewöhnliche Umwandlung /w/ → /b/ ( → [p]) sowie hyperkorrekter Umlaut -<ö>– in der ersten Silbe durch die Kanzlei führten zur heutigen amtlichen, literalen Namensform. Daß zwischenzeitlich in der Kanzlei (wie in vielen anderen Fällen) die „bäurische“ „meißnische Palatalisierung“ ignoriert wurde, zeigen die Belege 1486 Gotzschelicz und 1551 Gotzelwizs – mit Fortschreibung des Schwundes von -/w/- in der ersten Silbe wie auch der dentalalveolaren Affrikate.

Der Ortsname Göbschelwitz drückte offenbar den Spott der Nachbarn wegen der Wahl des ungünstigen Siedlungsortes im Überschwemmungsbereich des Lobers, eines Nebenflusses der Mulde, aus. Hier wurde zum Ausdruck der Häme bewußt *sliz, ›Schleim‹, Bezeichnung einer allgemein als eher abstoßend oder unangenehm empfundenen Art von Feuchtigkeit oder Flüssigkeit, gewählt, um auf die feucht-schlüpfrige, glitschige Stelle in der Aue Bezug zu nehmen. Der Name stellt sich semantisch und nach dem Bildungstyp neben einen weiteren Ortsnamen des Leipziger Stadtgebietes: Lauer (Wüstung [Einzelgut] sw. Leipzig, Stadt Leipzig, infolge Braunkohlentagebaues abgebrochen: 1378 Lugrede – Eichler/Walther 2010: 192), altsorbisch *Ługuradi ›Leute, die den Grassumpf mögen‹ zu *ług ›Grassumpf‹ und *rad ›gern (habend), froh (über), Gefallen findend (an)‹.

Der bisher in der slawischen Anthroponymie (und Toponymie) nicht gesehene Verbalstamm *gow– wurde unlängst bereits als Basis eines altsorbischen zweigliedrigen Oikonyms – da des Zweitglieds – entdeckt, und zwar mit der Rekonstruktion von Medingen (Dorf sö. Radeburg: 1289 de Medegowe) als *Medugowi ›Leute, die dem Honig zugetan sind‹, zu *med ›Honig‹ (Koenitz 2020: 251).

Interessant ist die nach Klärung der Etymologie von Göbschelwitz zutagetretende Duplizität des Auftretens der sonst weit und breit in der Slavia toponymisch nicht häufigen Basis *sliz. Natürlich tritt damit auch die Ähnlichkeit der historisch-topographischen Situation zweier Orte in der flußwasserreichen Region Leipzigs in den Blickpunkt.

Anmerkung: Will man namenkundlich ein wenig spekulieren, dann mag auch die erwähnte alternative Annahme einer –sk-Grundform von Schleußig unter einem neuen Aspekt betrachtet werden. Wie für die Erklärung zahlreicher mit dem Suffix –sk– gebildeter tschechischer Oikonyme (dort im Genus Neutrum: auf –sko auslautend, altsorbisch anscheinend durchweg Maskulinum) angenommen wird, stellen sie Benennungen von zeitweilig wüst gefallenen Neuaufbausiedlungen dar, die Teile des Ursprungsnamens der betreffenden Vorgängersiedlung integrieren. Für den altsorbischen Bereich, wo diese potentielle Funktion des Suffixes kaum im Bewußtsein der Forschung war, wurden unlängst entsprechende Beispiele in der Lausitzer Oikonymie herausgestellt (vgl. Bederwitz/oso. Bjedrusk – Koenitz 2010: 112). Diese Vorgänge gehen meistens mit Endsequenztrunkierungen einher (im Beispiel: *Bedrowic– → *Bedrowsk). Anfangstrunkierung tritt kaum auf, aber vielleicht ist doch nicht auszuschließen, daß Schleußigs ursprünglicher Name derselbe wie der von Göbschelwitz –  *Gowěslizi – gewesen war und nach Neuaufbau die Siedlung zunächst *Gowěsliźsk genannt, dieser Neuname aber alsbald auf *Sliźsk verkürzt wurde. Oder könnte in der Kanzlei die Vordersequenz eines ursprünglichen deutschen Integrats *Gow(e)slisk mit mittelhochdeutsch göu ›Gau‹ bzw. mittelniederdeutsch go(w) (vgl. die historische Institution Go(h)-, Gow(e)gericht – Der Digitale Grimm unter Gau, Gäu und Gaugericht) in Verbindung gebracht worden und wegen sachlicher bzw. namenbildungsmäßiger Abwegigkeit weggelassen worden sein? Belegt ist eine solche Dekomposition nicht.

Literatur:

Der Digitale Grimm.

DS = Deutsch-slawische Forschungen zur Namen- und Siedlungsgeschichte.

Eichler, Ernst (1985-2009): Die slawischen Ortsnamen zwischen Saale und Neiße, Ein Kompendium, 4 Bde, Bautzen.

Eichler, Ernst; Lea, Elisabeth; Walther, Hans (1960): Die Ortsnamen des Kreises Leipzig (DS 8), Halle (Saale).

Eichler, Ernst; Walther, Hans (2010): Alt-Leipzig und das Leipziger Land, Leipzig.

Große, Rudolf (1957): Namenforschung und Sprachgeschichte im Meißnischen, in: Leipziger Studien. Theodor Frings zum 70. Geburtstag (DS 5), Halle, 63-79.

HONSa = Eichler, Ernst; Walther, Hans (2001): Historisches Ortsnamenbuch von Sachsen, 3 Bde, Bearbeitet von Ernst Eichler, Volkmar Hellfritzsch und Erika Weber, Berlin.

Koenitz, Bernd (2010): Unwürde, Lubij, Dažin, Stwěšin und andere Namen altsorbischer Herkunft: Miszellanea und manches Systemhafte. [Teil I], in: Lětopis 57 1, 95-118.

Koenitz, Bernd (2020): Thietmars Medeburu(n) und ‚mel prohibe‘: Neues zum Oikonym Magdeborn in direktem linguistischen Zugriff und über eine Meta-Deutung …, in: NI 112, 249-292.

Machek, Václav (19682): Etymologický slovník jazyka českého, Praha.

Profous = Profous, Antonín (1947-1960): Místní jména v Čechách, Jejich vznik, původní význam a změny, 5 Bde [Bd. 4 zusammen mit Jan Svoboda, Bd. 5 von Jan Svoboda und Vladimír Šmilauer], Praha.

Schuster-Šewc, Heinz HEW (1978-1989): Historisch-etymologisches Wörterbuch der ober- und niedersorbischen Sprache, 4 Bde, Bautzen.