Rez.: Sich einen Namen machen

ulia Moira Radtke, Sich einen Namen machen. Onymische Formen im Szenegraffiti. Tübinger Beiträge zur Linguistik (= TBL 568), Tübingen: Gunter Narr Verlag, 2020, 404 S. – ISBN: 978-3-8233-8330-7 (Print) ISBN: 978-3-8233-9330-6 (eBook), Preis: EUR 88,00 (DE Print), EUR 70,40 (DE eBook).

Rezensiert von Elisabeth Witzenhausen, Bochum

WES, HOPE oder PANIK – Graffiti-Tags mit den Szenenamen von Sprühern sind aus dem urbanen Raum nicht wegzudenken. Diese Namen geben sich Personen, die mit der Graffitiszene nicht vertraut sind, häufig gar nicht als Namen zu erkennen, weil die Buchstaben stark verfremdet und verziert erscheinen. Doch der Name ist zentrales Element der Graffitikunst: „Bis heute steht der Name im Mittelpunkt des Szenegraffitis“ (S. 153). Graffitinamen wurden von der onomastischen Forschung bisher nicht betrachtet. Julia Moira Radtkes Dissertation „Sich einen Namen machen – Onymische Formen im Szenegraffiti“ widmet sich dieser Forschungslücke und untersucht auf Basis von Graffiti-Fotografien aus Mannheim, wie sich Graffitinamen namentheoretisch einordnen, welche Funktionen sich für sprachliche und bildliche Muster bei den Graffitinamen bestimmen und innerhalb welcher Theorie sich die Namen beschreiben lassen. Die Arbeit verbindet erklärtermaßen methodisch und inhaltlich die Linguistic Landscape Forschung mit der Sozioonomastik und Multimodalitäts- und Schriftbildlichkeitsforschung. Zum größten Teil qualitativ angelegt, werden auch quantitative Aussagen zu den Aufnahmen im Korpus gemacht. Die Fotografien der untersuchten Graffitis stammen von der Polizei Mannheim und werden über die Forschungsdatenbank INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland (Papenbrock und Tophinke 2018) verfügbar gemacht.

Die Arbeit gliedert sich in acht Kapitel. In der Einleitung (Kapitel 1) wird zunächst das Forschungsthema innerhalb der Linguistic Landscape Forschung und der Onomastik verortet. Der Titel der Arbeit erklärt sich wie folgt: Graffitisprüher, auch Writer genannt, wählen zum einen ein Pseudonym aus, unter dem sie innerhalb der Szene aktiv sind. Zum anderen sei es das Ziel eines jeden Writers, innerhalb der Szene berühmt zu werden. Graffitikünstler machen sich somit in zweierlei Hinsicht „einen Namen“. Die Autorin betont, dass es sich bei der Untersuchung der Graffitinamen um ein sozioonomastisches Thema handelt, da die Namen stark an die Graffitiszene gebunden sind und sie daher in diesem Kontext untersucht werden müssen. Diese Namenform sei zudem besonders interessant, weil sie, anders als z. B. Rufnamen, nicht nach euphonischen, sondern nach bildlich-ästhetischen Kriterien ausgewählt werden. Im Abschnitt 1.2. wird der Forschungsgegenstand und die Datengrundlage näher beschrieben. Die Bilder der Graffitis werden vor allem qualitativ, mit integrierten quantitativen Ansätzen, untersucht. Im Abschnitt 1.3. wird zunächst die Forschungsgeschichte zum Graffiti beleuchtet, bevor die Beschäftigung der Linguistik mit Graffitis diskutiert wird. Graffitis als Formen minimaler Schriftlichkeit seien von der Schriftlichkeitsforschung mit ihrem Fokus auf ausgebaute Schriftlichkeit bisher nicht in den Blick genommen worden (Papenbrock und Tophinke 2016: 101). Hinzu komme ihr „bildhafter Charakter“ (Papenbrock und Tophinke 2012: 181). Bereits Neumann kategorisiert Graffitinamen als Pseudonyme und stellt ihre grafische Gestaltung mit der Bezeichnung Buchstabenfiguren (Neumann 1986: 100) heraus. Neben der Bildlichkeit wird auch das Subversive am Graffitiwriting thematisiert, denn Graffitis werden meist illegal im öffentlichen Raum angebracht, wobei das Verbotene zentraler Teil dieser kulturellen Praxis ist. Im Abschnitt 1.3.3 wird die onomastische Forschung zu Pseudonymen besprochen und herausgestellt, dass auch die Forschung zu dieser Namenform überschaubar ist. Außerdem liegen, bis auf den Bereich der Internetpseudonyme, kaum Arbeiten auf Basis größerer Datenerhebungen vor.

Kapitel 2 widmet sich der Geschichte und Charakteristik von Graffitis. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Formen unautorisierter öffentlicher Schriftlichkeit sind fließend. Aus diesem Grund charakterisiert die Autorin im Kapitel 2.1. Szenegraffiti und grenzt es von Inschriften auf z. B. Toilettentüren und Schulbänken ab. Sieben Charakteristika sind dabei entscheidend, denen Radtke jeweils einen Abschnitt widmet: Zunächst charakterisiert sie Szenegraffitis als „Hybridformen“ (S. 41) zwischen Bild und Schrift (Abschnitt 2.1.1), in der die Buchstaben eigenen Gestaltungsprinzipien folgen, deren Formmerkmale nicht durch die Funktion als Graphem bestimmt sind. Unter dem Begriff Intransparenz (Abschnitt 2.1.2) wird die Verfremdung der Buchstaben gefasst, die dazu führt, dass der Übergang zwischen Graphem und Figur verwischt und dabei die Disjunktivität und die Differenzierbarkeit der Grapheme nicht mehr gegeben ist. Als „transgressiv“ (2.1.3) gelten Graffitis, weil sie nicht autorisiert im öffentlichen Raum platziert werden und somit „an einem falschen Ort“ (S. 46), d. h. auch illegal, platziert werden. Abschnitt 2.1.4 charakterisiert Graffitis als ortsfest und zugleich ephemer. Ortsfest, denn durch die Anbringung an Wände oder Züge ist das Graffiti an seinen Anbringungsort gebunden. Hierbei bemerkt die Autorin, dass die Ortsgebundenheit von Szenegraffitis im Gegensatz zu anderen unautorisierten Schriftzügen nicht semantisch, also räumlich gebunden, sei. Als Beispiel gibt die Autorin die Aufschrift SPASTEN an einer Haustür an, wobei sich die Bezeichnung auf die Bewohner des Hauses bezieht. Diese Kontextgebundenheit entfällt beim Szenegraffiti. Die Illegalität führt jedoch dazu, dass die Graffitis häufig wieder entfernt werden. Ist dies nicht der Fall, sorgt die Witterung für ein Verblassen der Farben, was die Kunstwerke flüchtig – ephemer – macht. Abschnitt 2.1.5 diskutiert den „öffentlichen Raum“ als Ort für das Anbringen von Graffitis und nennt die geringe Autorität im Vergleich zu anderer Schriftlichkeit im Stadtbild (z. B. Straßenschilder und Werbung). Der nächste Abschnitt widmet sich der Urbanität und charakterisiert Graffitis als spezifisch für sogenannte „Transiträume“ (S. 53), d. h. Orte, an denen man sich nicht länger aufhält und an denen Graffiti aus der Bewegung heraus eher beiläufig wahrgenommen werden. Im Abschnitt 2.1.7 „Artefakte“ wird das Herstellen von Graffitis als soziale Praxis und das Graffiti selbst als Artefakt perspektiviert. Der Herstellung von Tags liegt eine routinierte Handlung mit typischen Bewegungsabläufen zugrunde. Diese Handlung schlägt sich in den Formen, z. B. der Linienführung und Farbgebung der Graffitis nieder.

Kapitel 2.2. widmet sich der Geschichte des Graffitis. Die Autorin nimmt Abstand von der häufig gezogenen Parallele zwischen In- und Aufschriften von der Steinzeit bis ins Mittelalter und betont die Spezifität der sozialen Praxis des Szenegraffitis, das seinen Ursprung in den USA (Philadelphia) hat, wo Jugendliche Mitte der 1960er Jahre begannen, ihren Namen auf Hauswände zu malen. Das Phänomen verbreitete sich bis nach New York, wo in Nachbarschaften, geprägt von Diskriminierung, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit der Jugend, Graffitis immer beliebter wurden, sich Gruppen von Writern (Crews) bildeten und neue Stile einzelner Writer über die ganze Stadt verbreiteten. In den 1980er Jahren wurde das Phänomen durch die Hip-Hop-Kultur in Filmen und Musik auch in Europa bekannt, sodass bald die Berliner Mauer mit Graffitis bemalt wurde und sich in vielen deutschen Großstädten Crews bildeten. In einem weiteren Abschnitt (2.2.4) werden Graffiti und Street Art als getrennt zu betrachtende Phänomene charakterisiert. Die Abschnitte 2.3.1–2.3.5 widmet die Autorin der Graffitiszene, ihren Strukturen, typischem Vokabular und Regeln. Sie versteht Crews in Anlehnung an die amerikanische Graffitiforschung als Communities of Practice (S. 73), in der erfahrene Mitglieder ihr Wissen (Techniken, Stile und spezifisches Vokabular) an neue Mitglieder weitergeben. Mitglieder etablieren sich innerhalb der Szene über Qualität und Quantität ihrer Arbeit. Man kann den eigenen Namen massenhaft verbreiten (bezeichnet durch das Verb to bomb) oder durch seinen perfektionierten Stil breite Anerkennung erlangen.

Kapitel 3 widmet sich dem onomastischen Hintergrund der Arbeit. Dabei werden allgemein die Positionierung der Namen im System der Sprache (3.1.), die funktionalen Eigenschaften von Namen (3.2.) und die Semantik von Namen (3.3.) betrachtet. Abschnitt 3.4. widmet sich den Ebenen onymischer Markierung, wobei der graphischen Markierung ein eigenes Unterkapitel gewidmet wird, weil diese laut Autorin für die Analyse der Graffitinamen von besonderer Relevanz ist.

In der Arbeit werden Graffitinamen als eine Unterart der Pseudonyme verstanden. Kapitel 4 widmet sich ausführlich dieser Namenart. Pseudonyme als selbst gewählte Anthroponyme werden nach einer allgemeinen Verortung im System der Personennamen (4.1.) in ihrer Funktion zwischen Tarnung, Inszenierung und Charakterisierung (4.2) diskutiert. Dabei werden Deck-, Tarn- und Künstlernamen sowie Internetpseudonyme in den Blick genommen. Kapitel 4.3. beleuchtet die bisherige Forschung zu Pseudonymen und stellt heraus, welche Gesichtspunkte dabei eine Rolle spielen. Neben Studien zu strukturellen Eigenschaften werden auch Untersuchungen vorgestellt, die die visuellen Eigenschaften der Pseudonyme analysieren. Dies ist für Graffitinamen relevant, da sie, wie Internetpseudonyme, ausschließlich für eine geschriebensprachliche Realisierung konzipiert sind (S. 150).

Kapitel 5 ist dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand, den Namen in Graffitis, gewidmet. Kapitel 5.1. erläutert die Kategorisierung der Grafftitinamen als Pseudonyme. Vereinzelt nutzt die Autorin auch den Begriff „Visionym“, um die Schriftbildlichkeit dieser Namenart zu betonen. Die Graffitinamen werden zum einen als Pseudonym gewählt, um die bürgerliche Identität der Writer zu verbergen, da es sich beim Graffitischreiben um eine illegale Tätigkeit handelt. Zum anderen dient der Name innerhalb der Szene dazu, als Urheber der Graffitiwerke Berühmtheit (Fame) zu erlangen. Als spezifische formale und funktionale Eigenschaften der Graffitinamen werden in Abschnitt 5.2. zunächst die Medialität (5.2.1), also die Tatsache, dass die Graffitinamen ausschließlich für die Schrift konzipiert sind und so Ähnlichkeit zu einem Logo oder Monogram zeigen, erläutert. Eine Besonderheit der Graffitinamen ist, dass die Grapheme in ihrer Figürlichkeit eine zentrale Rolle spielen und von Writern nicht aufgrund ihrer schriftsprachlichen Bedeutung gewählt werden, sondern aufgrund ihres Gestaltungspotentials in Namen erscheinen (5.2.2). Weitere Charakteristika sind, dass die Namen genutzt werden, um die Kunstwerke zu signieren, somit Parallelen zu Künstlernamen bestehen (5.2.3), die Namen aber auch aus gestalterischen Gründen oder aufgrund polizeilicher Verfolgung in der Schreibung variieren und ganz neu gewählt werden (5.2.4). Eine Perspektivierung des Graffitimalens als Praktik wird in den Abschnitten 5.2.5 und 5.2.6 eingenommen. Hier nimmt die Autorin Graffitis als Zeichen bzw. Spur der Aktivität von Sprühern in den Blick und diskutiert, wie der Anbringungsort innerhalb der Szene mit Prestige verbunden wird. Auch die Dynamik des Sprühvorgangs, die sich am späteren Werk ablesen lässt, sowie der Untergrund, der je nach Stadt variieren kann, wird hier beleuchtet.

Im letzten Abschnitt des Kapitels wird der multimodale Interpretationsansatz, den die Arbeit verfolgt, erläutert und an zwei beispielhaft ausgewählten Graffitinamen MAG und ÄRIS durchexerziert. Multimodal ist ihr Erklärungsansatz, weil, so die Autorin, bei Graffitis verschiedene semiotische Ressourcen (Grapheme, Interpunktionszeichen, Zahlen, bildliche Elemente, räumlich-situativer Kontext) in Wechselwirkung zueinander Bedeutung generieren. So führt z. B. beim Namen MAG ein Fadenkreuz neben dem Namen dazu, dass die lexikalische Bedeutung eines Maschinengewehrs aktiviert wird. Man kann sich vorstellen, dass z. B. ein Herz an dieser Stelle eher die 1. Pers. Sg. des Verbes mögen aktivieren würde. Ähnlich können die Gestaltung der Buchstaben oder Zahlen bestimmte Bedeutungen generieren.

In Kapitel 6 zeichnet die Autorin zunächst die Suche nach einem passenden Beschreibungsansatz für die besondere Schriftbildlichkeit der Graffitinamen nach und stellt dann verschiedene Forschungsperspektiven auf Schriftbildlichkeit vor. Dabei wird zunächst das Beschreibungsinventar der Typographie diskutiert, das Beschreibungskategorien liefert, jedoch auf maschinell gefertigte Texte ausgerichtet ist. Die Kalligraphie bezieht sich auf handschriftliche Texte, bietet aber weniger Beschreibungsinventar. Besser geeignet für die Analyse von Graffitinamen sei die schriftbildliche Analyse nach Metten (2011), bei der neben Schriftart, -größe und -gestaltung auch die Produzenten mit ihrem kulturellen Hintergrund, den Produktionsbedingungen, Motiven und Zielen in den Blick genommen werden. Weitere Arbeiten aus der Schriftbildlichkeitsforschung werden in den folgenden Abschnitten vorgestellt. Von Relevanz für die Graffitinamen ist dabei die soziale Bedeutung graphischer Mittel in der Graffitiszene. Durch die besondere Gestaltung der Graffitis seien sie erst als Teil der Szene von anderen schrift(bild)lichen Elementen in der Linguistic Landscape zu unterscheiden. Zudem fungiere die Gestaltung der Graffitis auch als onymischer Marker (6.2.3), was ihm eine grammatische Bedeutung (S. 210) gebe.

Der empirische Teil der Arbeit wird in Kapitel 7 vorgestellt. In den ersten drei Unterkapiteln wird das untersuchte Korpus, die Datengrundlage sowie das Formenspektrum der im Korpus enthaltenen Grafftis rein qualitativ vorgestellt. Dabei wird das Szenegraffiti von Texten wie politischen Parolen und Fangraffiti auf der einen und rein bildlichen Elementen wie Wandbildern und Ornamenten auf der anderen Seite abgegrenzt (S. 232). Je nach bildlicher und konstruktionaler Komplexität wird innerhalb des Szenegraffiti zwischen einfachen Tags und bildlich komplexer gestalteten Throw Ups bzw. Pieces unterschieden.

Kapitel 7.4. widmet sich den verschiedenen Stilelementen und Charakteristika der Namen, die als Tags realisiert werden. Dabei werden die (i) Deformation der Grapheme, (ii) ornamentale und figürliche Gestaltungselemente (z. B. Interpunktionszeichen, Symbole oder Figuren), (iii) die Alternation von Majuskeln und Minuskeln (OveR, SeRo), (iv) die Integration von Zahlen (KANTO EINZ, COJAK 68), (v) Crewnamen, die meist Kurzwörter sind (TFN, RAF), (vi) orthografische Abweichungen sowie (vii) semantische und lexikalische Muster ausführlich besprochen. Bei den Aspekten (i) und (ii) werden szenetypische Stile herausgearbeitet und es wird gezeigt, wie Buchstaben und Zeichen eingesetzt werden, damit das Graffiti z. B. mächtig, großflächig, aggressiv bzw. aussagekräftig wirkt, sich die Art und der Grad der Ausschmückung aber bei gleichen Namen auch in abgewandelter Form finden. Nicht immer nutzt ein Writer somit die gleichen Stilelemente. Majuskel- und Minuskelalternation werden auch quantitativ beschrieben und gezeigt, wie sich dieses Stilelement im Punk, bei Internetpseudonymen oder bei Erpresserbriefen findet und welcher Zusammenhang sich zwischen der Nutzung erkennen lässt. Es handle sich beim Grafftiwriting um eine Praktik des „Gestalten[s] mit Buchstaben“ (S. 259). Wie auch bei orthographischen Abweichungen von der Norm werde durch variierende Majuskel- und Minuskelschreibungen eine kulturelle Zugehörigkeit kommuniziert. Formale Analysen der Graffitis stehen hier stets im Zusammenhang mit der Betrachtung der Praktik des Graffitiwritings, bei der die sozialen Funktionen (z. B. Zugehörigkeit zur Szene, Subversion, eigenen Stil betonen) der verschiedenen Formen herausgearbeitet werden.

Zu Crewnamen analysiert die Autorin den grammatischen Status der Namen, die semantische Motivierung sowie die Länge der Akronyme.

Zu den Namenbasen der Graffitinamen einzelner Writer arbeitet Radtke drei Hauptquellen heraus: Neologismen (z. B. OSEK), onymisches Material (Rufnamen, z. B. DIEGO, Nachbenennungen, z. B. NERO, und Ortsnamen z. B. TOKIO) und Lexikonwörter (S. 310). Dabei können die Lexikonwörter, so die Autorin, transparent (RELAX, HELPLESS) oder verfremdet (KAOS) auftreten. Zu den Lexikonwörtern werden fünf Quelldomänen aufgestellt ((i) starker und angesehener Graffitiwriter, (ii) mutiger und viriler Graffitiwriter, (iii) Graffitiwriter ist ein Kollektiv, (iv) Graffitiwriter ist aggressiv und gewaltsam, (v) Graffitiwriter agiert illegal und im Verborgenen) und untersucht die Spendersprachen der Lexeme (z. B. sind Englisch, Spanisch oder Türkisch im Korpus vertreten). Kapitel 7.5. untersucht größere Graffitinamen, sogenannte Pieces. In ihren schriftsprachlichen Eigenschaften zeigen sie laut Radtke die gleichen Merkmale wie Tags, jedoch sind Größe, Platzierung und schriftbildliche Gestaltung unterschiedlich. Pieces werden in der Graffitiszene als große, qualitativ hochwertige und aufwendige Arbeiten besonders wertgeschätzt. Auch hier steht der Name im Mittelpunkt des Werks.

Kapitel 8 „Fazit und Ausblick“ fasst die Autorin die zentralen Erkenntnisse der Arbeit zusammen und skizziert kurz, dass Untersuchungen zu Graffitinamen außerhalb Mannheims wünschenswert wären.

Die Arbeit schafft es, die Betrachtung des Malens von Szenegraffitis als Praxis und die onomastische Perspektive auf diese Pseudonymart zu verbinden und stellt wichtige Form- und Funktionseigenschaften von Szenegraffitis heraus. Besonders die (schriftbildliche) Variabilität der Namen und deren onymische Markierung sind eine Besonderheit dieser Namenart. Die qualitativen Analysen sind umfassend und interessant für Namenforscher, Soziologen und Laien, die sich mit Pseudonymen, onymischer Markierung, Subkultur oder Schriftbildlichkeit beschäftigen. Leider wirken quantitative Angaben in der Arbeit willkürlich ausgewählt. Zu Beginn der Datenbeschreibung werden die Anzahl der untersuchten Bilder (n = 11.154) genannt und betont, dass es sich dabei um Token handelt, weil viele Namen mehrmals im Korpus erscheinen. Es wird auch erläutert, dass Listen der Namentypes erstellt wurden (S. 221), jedoch wird weder angegeben, wie viele Types sich im Korpus finden, noch wird eine Liste der im Korpus enthaltenen Namen im Anhang aufgestellt. So werden bei der Analyse der Zahlen im Szenegraffiti Angaben zu Häufigkeiten gemacht, jedoch sind diese Angaben ohne die Gesamtanzahl der Types nutzlos. Somit verfehlt die Arbeit das Ziel, quantitative Aussagen zu machen, „wo Zahlen interpretativ hilfreich sind“ (S. 222) und macht es auch für zukünftige Untersuchungen unmöglich, eine Vergleichsbasis zu nutzen. Ein knappes einführendes Kapitel, welches systematisch quantitative Erkenntnisse zusammenfasst, wäre ein großer Mehrwert für die Arbeit gewesen. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Position der Untersuchung von Crewnamen (7.4.5) – da es sich hierbei um die Analyse eines spezifischen Teils des Korpus handelt und die Namen umfassend diskutiert werden, hätte sich angeboten, dieses Kapitel nach der Beschreibung der Merkmale der Graffititags zu setzen.

Die Dissertation von Radtke liefert einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von Pseudonymen und eignet sich auch hervorragend zur Nutzung in der universitären Lehre, denn die Einführungskapitel sind klar strukturiert und fassen den Forschungsstand zu den relevanten Namenarten knapp zusammen. Hinzu kommt, dass Namenforscher und Studierende mit Sicherheit Freude an Folgeuntersuchungen zu dieser besonderen Pseudonymenart mit der Datenbank INGRID haben werden.

Literatur

– Metten, Thomas (2011): Schrift-Bilder – Über Graffitis und andere Erscheinungsformen der Schriftbildlichkeit, in: Diekmannshenke, Hajo / Klemm, Michael / Stöckl, Hartmut (Hg.): Bildlinguistik. Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Berlin: Schmidt, 73–93.
– Neumann, Renate (1986): Das wilde Schreiben. Graffiti, Sprüche und Zeichen am Rand der Strassen. Essen: Verlag Die Blaue Eule.
– Papenbrock, Martin / Tophinke, Doris (2012): Wild Style. Graffiti-Writing zwischen Schrift und Bild, in: Schuster, Britt-Marie / Tophinke, Doris (Hg): Andersschreiben. Formen, Funktionen, Traditionen. Berlin: Schmidt, 179–197.
– Papenbrock, Martin / Tophinke, Doris (2016): Graffiti. Formen, Traditionen, Perspektiven, in: Hausendorf, Heiko / Müller, Marcus (Hg.): Handbuch Sprache in der Kunstkommunikation. Berlin: De Gruyter, 88–109.
– Papenbrock, Martin / Tophinke, Doris (2018): Graffiti digital. Das Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID), in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, 15/1, 159–172.

Empfohlene Zitierweise
Elisabeth Witzenhausen: [Rezension zu] Sich einen Namen machen, in: Onomastikblog [25.1.2022], URL: https://www.onomastikblog.de/artikel/ni-rezensionen/rez-sich-einen-namen-machen/

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