Rez.: Nördlingen. Der ehemalige Landkreis

Bernd Eigenmann, Nördlingen. Der ehemalige Landkreis (Historisches Ortsnamenbuch von Bayern. Hrsg. von der Kommission für Bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Schwaben, Band 15) München: Kommission für Bayerische Landesgeschichte 2020, 402 S., 1 Karte – ISBN: 978-3-7696-6593-2, Preis EUR 59,00 (DE).

Rezensiert von Albrecht Greule, Regensburg

„Der Landkreis Nördlingen und das Ries stellen eine der schönsten Landschaften Süddeutschlands dar“ (S. 17*). Das Ries ist eine kreisrunde Ebene in der Mitte des Städtedreiecks München-Nürnberg-Stuttgart, die durch den Einschlag eines Steinmeteoriten auf die Erdoberfläche vor ungefähr 15 Millionen Jahren entstand. Der ehemalige Landkreis Nördlingen deckt sich nicht vollständig mit dem Ries; Anteil daran hat auch der baden-württembergische Ostalbkreis, dessen Ortsnamen von Lutz Reichardt bearbeitet wurden (Anm. 1). Bernd Eigenmann trägt in der Einleitung auf 140 Seiten detailliert das Wissen zur Geologie, zum Naturraum und zur Siedlungsgeschichte des Rieses zusammen und wertet zugleich statistisch und sprachhistorisch die aus den 244 Ortsartikeln gewonnenen Erkenntnisse aus. In mehreren Karten ist das Ries mit gestrichelter Linie eingezeichnet (vgl. die Abbildungen 6, 7, 8 und 9).

Dem Leser des Buches drängt sich – nach der Lektüre der ausführlich dargestellten Geschichte der Besiedelung des Rieses, die von der Steinzeit über die Römer bis zu den Alemannen und zur fränkischen Einflussnahme im 6. Jh. reicht – die Frage auf, wie sich die Besiedlungsphasen in den Ortsnamen des Kulturraums abbilden. Sprachlich fassbar werden – allerdings nur durch etymologische Rekonstruktion – keltische Namen, die auf die Sprache der Siedler zur sogenannten Latènezeit (450–15 v. Chr.) zurückgehen dürften. So liegt am Fuß des Burgbergs bei Heroldingen (Anm. 2) in einer Flussschleife der Wörnitz, die hier von einer Römerstraße überquert wurde, eine ausgedehnte Spätlatènezeit-Siedlung. Eine befestigte stadtartige Siedlung, ein sogenanntes Oppidum, vermutet man im Ries auch auf dem Ipf, einem Einzelberg (662 m) der Schwäbischen Alb bei Bopfingen (Ostalbkreis). Der Name Ipf geht auf (in der Tabula Peutingeriana verzeichnetes) romanisches Opie (= lat. *Opiae) zurück, woraus über *Uppje und *Üpfe (1339 Vpfe) lautgesetzlich heutiges Ipf entstand. Wegen des maskulinen Genus (der Ipf) könnte auch von einem Dativ ahd. maskulin *zi Upf(j)e < vorahd. *Opius (mons) ausgegangen werden (Anm. 3). In Relation zu den archäologischen Befunden auf dem Ipf ist es angebracht, den Namen etymologisch als keltisch zu erklären, zumal keine Etymologie bislang vorliegt (Anm. 4). Vorkeltisch könnte der Name der Wörnitz, 841 (Annalen 12. Jh.) Warinza (Eigenmann, S. 304–307) sein, während Eger, 760 Agira (Eigenmann, S. 72f.) wohl als keltischer Name zu etymologisieren ist. Demgegenüber sind die Namen der Flüsse Mauch, die bei Klosterzimmern (Eigenmann, S. 68) in die Eger mündet, und Sechta, die am Ipf vorbeifließt und in Bopfingen ebenfalls in die Eger mündet, germanische (alemannische) Namen (Anm. 5). Wie Opie/Ipf zeigt, sind Ortsnamen im Ries erst in der Römerzeit schriftlich greifbar. Außer Opie erscheint auf der Tabula Peutingeriana auch der Name Losodica, der mit dem Kastell bei Munningen identifiziert wird (Nr. 135, mit unklarer Etymologie).

Anders als der untergegangene römische Name Losodica ist neben Ipf der Landschaftsname das Ries ein wichtiger Zeuge romanischer Namenkontinuität. Entsprechend ausführlich wird er von Bernd Eigenmann (S. 234–242) behandelt. Allerdings werden fast vier Spalten des Namenbuches mit den Nachweisen der Namen Raeti und Raetia in den römischen Quellen gefüllt, ohne dass der Zusammenhang mit dem Namen Ries, der zuerst 760 Thininga (= Deinigen) in pago Rezi (Eigenmann, S. 236) und 898 Nordilinga in pago Retiensi (Eigenmann, S. 206) als Gau-Name belegt ist, klar wäre. Das Referat der bis ins 19. Jh. reichenden Deutungsversuche des Namens Ries führt schließlich zu dem Fazit, dass Ries im Zusammenhang mit dem römischen Provinznamen Raetia steht. Es bleibt aber ungeklärt, z. B. warum „der Provinzname Raetia auch in unserem Ries fortlebt“ (Eigenmann, S. 239). Stefan Sonderegger behandelte schon 1987 den Namen Ries in der Kategorie der Namenübertragung, d. h. „bereits bestehende (Orts-)Namen werden auf neue räumlich-örtliche Namenbereiche übertragen.“ (Anm. 6) Der Volksname Raeti und der römische Provinzname Raetia erscheinen erstmals in einer germanisch adaptierten Form in der Notitia dignitatum (420–430) als Raetobarii (= *Raetovarii). Damit wurden die Alemannen benannt, die Föderaten des Römischen Reiches im Grenzgebiet der Provinz Raetia secunda (im oberen Donauraum) waren und sich damit im Osten des alemannischen Stammesgebiets von den übrigen Alemannen abhoben (Anm. 7). Die ältesten Namenbelege für das Ries sind aber 300–400 Jahre jünger und stammen aus fränkischen Quellen. Sie setzen voraus, dass im Jahre 496 das ganze Alemannenland ein Teil des fränkischen Reiches geworden war (Eigenmann, S. 46*). Aus den ältesten Nennungen schließt St. Sonderegger auf einen fränkischen Gau-Namen (das) *Riezi-gouwi für das von Alemannen besiedelte Gebiet an Wörnitz und Eger südlich des Limes. Der Gau-Name war wohl nie volkstümlich, im Unterschied zu der Kurzform (1315 in dem Ryezze), die bis heute das Genus neutrum des Gau-Namens bewahrt hat. Lautgeschichtlich ist von einer vorahd., roman. Form *Rēti (= Raeti) auszugehen, die einerseits im Latein der Kanzleien (pagus Retiensis) bewahrt wurde, andererseits lautgesetzlich zu altalem. Riezi weiterentwickelt wurde (vgl. Eigenmann, S. 239).

Man kann sich nun fragen, ob die Besiedelung des Rieses durch Alemannen, die ab der Mitte des 3. Jh. begonnen haben soll (Eigenmann, S. 5 und 181), in der Namenlandschaft des Rieses bzw. des Altlandkreises Nördlingen zu beobachten ist. Dank der übersichtlich dargestellten statistischen Auswertung der Ortsnamentypen (Kap. V) ist gut erkennbar, dass die Namen, die mit dem Suffix -ingen gebildet sind, außer den -mühlen-Namen, mit 35 verschiedenen Ort­schaften, von denen keine abgegangen ist, am ehesten auf die alemannische Besiedelung, die im 4. Jh. beginnt, zurückgehen (Anm. 8). Zwar weist Bernd Eigenmann (S. 4 und 17) zurecht darauf hin, dass die vielfach vertretene Auffassung, die -ingen- und -heim-Namen könnten stammesmäßig zugeordnet werden, falsch ist. Es ist aber nicht zu übersehen, dass der Landkreis Nördlingen ein „Verdichtungsraum“ der -ingen-Namen ist und dass die -ingen-Orte (im Unterschied zu den -heim-Orten) vor allem an den Flüssen Wörnitz und Eger liegen. Ferner ist die Bildungsweise, durch die Namen mit Suffix gebildet werden, altertümlicher als die Komposita auf -heim. Die -ingen-Namen bezeichnen, genau genommen, keine Siedlungsorte, sondern ursprünglich Siedlergruppen. Für das hohe Alter der durch die alemannische Besiedelung entstandenen -ingen-Namen spricht eine Auffälligkeit, die die Leser erkennen, wenn sie die in den Ortsartikeln von Bernd Eigenmann sorgfältig aufgearbeiteten Deutungen der Namen studieren: Der Personenname, von dem jeder -ingen-Name abgeleitet ist, muss in mehreren Fällen ad hoc rekonstruiert werden. Das betrifft Amerdingen (PN. *Ah(a)mard), Deinigen (PN. *Tīno), Fremdingen (PN. *Frōmunt), Hoppingem (PN. *Hoppo), Lehmingen (PN. *Luomo), Löpsingen (PN. *Lëbezo), Merzingen (PN. *Marzo) (Anm. 9), Möttingen (PN. *Moto), Munningen (PN. *Munno), Nuttingen (PN. *Nutto), Nördlingen (PN. *Nordilo), Pfäfflingen (PN. *Pheffilo), Utzwingen (PN. *Utzman). Im Unterschied zu der ältesten germanischen Namengruppe lassen sich die -heim-Namen im Untersuchungsgebiet in drei (wohl auch zeitlich gestufte) Gruppen einteilen: 1) Echte Komposita mit dem Stamm eines Appellativs als Bestimmungswort, z. B. Alerheim (BW. ahd. alar ‘Erle’) (Anm. 10), †Furtheim (BW. ahd. furt ‘Furt’), Holheim (BW. ahd. hol ‘Höhle, Loch’), Hürnheim (BW. ahd. hurwīn ‘schmutzig‘), Lierheim (ahd. (h)lëwāri ‘Wall, Damm’), Sorheim (BW. mhd. sōr ‘trocken, dürr’), Steinheim (BW. ahd. stein ‘Stein, Fels’). 2) „unechte“ Komposita mit dem Genitiv eines Personennamens als BW., z. B. Balgheim (PN. *Balgo), Belzheim (PN. *Belli), Ederheim (PN. *Adaro) (Anm. 11), Fessenheim (PN. *Fazzo), Herkheim (PN. Hericho), Megesheim (PN. *Magīn). 3) Orientierter Ortsname: (Wörnitz)ost-heim, der Ort befindet sich im östlichen Bereich des Deininger Fiskalbezirks und soll eine „staatliche Gründung“ sein (Eigenmann, S. 305).

Neben den -ingen- und -heim-Namen prägen weitere Ortsnamen-Typen die einzigartige Landschaft des Rieses, darunter die vielen -haus-/-hausen-, -hof-/-hofen-, -berg-, -bach- und besonders die -mühlen-Namen. Sie alle, auch die nicht wenigen Wüstungsnamen, sind in den Namenartikeln historisch und sprachwissenschaftlich ausführlich ausgearbeitet und ragen durch eine sorgfältig abwägende Sondierung aller Deutungsvorschläge hervor. Dass sich die Lektüre des HONB, um sich durch die Ortsnamen ein Bild von der historischen Entwicklung des Rieses zu machen, lohnt, soll schließlich der „kuriose“ Name des Weilers Speckbrodi (Nr. 209) beweisen: 1363 Spechbrot, seit dem 19. Jh. Speckbrod-i. Bernd Eigenmann erklärt den Namen als „Fettbrühe“ und als abwertende Benennung mit Bezug auf die sumpfige Umgebung, dem in der Neuzeit das beschönigende -i-Suffix angehängt wurde.

Anmerkungen

(1) Lutz Reichardt, Ortsnamenbuch des Ostalbkreises, 2 Teile, Stuttgart 1999.
(2) Eigenmann, S. 114f.
(3) Reichardt, Ostalbkreis II, S. 48f.
(4) *Opius mit keltischer Lautentwicklung über *Okṷios aus idg. *h3okṷ-io-s ‘Beobachter, Überwacher’(?), Nomen agentis zum Verb idg. *h3ekṷ- ‘ins Auge fassen, erblicken’ (LIV 297), gebildet wie lat. socius zum Verb lat. sequi ‘folgen’.
(5) Mauch, alem. Mūche, germ. *mūka- ‘weich, sanft, modrig’; Sechta, 1298 Sehtan, ON. Sechtenhausen (Ostalbkreis), 1279 Sehtenhusen, < germ. *Sihtana ‘Gießbach’.
(6) Stefan Sonderegger, RAETIA – RIES – CHURWALCHEN. Namenwechsel durch Verdeutschung und Übersetzung. In: Romania ingeniosa, Festschrift für Gerold Hilty, Bern, Frankfurt 1987, S. 69–90.
(7) Vgl. dazu Eigenmann, S. 43*f., der vermerkt, dass unter Kaiser Probus (276–282) das ehemals römische Provinzialgebiet als Vorfeld germanischen Siedlern überlassen wurde und dass an der Besiedlung der rätischen Landschaft nördlich der oberen Donau mehrere elbgermanische Stämme beteiligt waren.
(8) Im benachbarten Ostalbkreis sind es einschließlich der abgegangenen Namen 43 -ingen-Orte.
(9) Zu bedenken wäre, ob im ON. Merzingen ein voralem. roman. PN. *Mārtius/*Mārcius (vgl. P. Wiesinger/A. Greule, Baiern und Romanen, Tübingen 2019, S. 149, zum ON Marzóll), die Basis bildet. Auch die Umbildung des oft bezeugten roman. ON. *Marciacum > alem. *Merzicho zu *Merzinga/Merzingen ist vorstellbar.
(10) Demgegenüber liegt im ON. Erlbach (Nr. 58) das geläufigere Wort für die Erle vor: ahd. elira, erila.
(11) Nach der geophysischen Übersichtskarte im Anhang liegt das Kirchdorf Ederheim an einem Fließgewässer namens Retzenbach, das in den Forellenbach (zur Eger) mündet (Eigenmann, S. 250), und es „zeugen alemannische Reihengräber des 6./7. Jh. von einer frühmittelalterlichen Hofstätte“ (Eigenmann, S. 69). In Anbetracht der siedlungshistorischen Gegebenheiten darf man in Ederheim als BW. auch einen Gewässernamen in der Form *Adria > *Ädere > Eder- vermuten, der für das Flusssystem RetzenbachForellenbach gegolten hat. Er könnte als verkürzende Übertragung des germanischen Namens der Eder (zur Fulda), schon bei Tacitus als Adrana bezeugt, gedeutet werden.

Empfohlene Zitierweise
Albrecht Greule: [Rezension zu] Nördlingen, in: Onomastikblog [17.11.2020], URL: https://www.onomastikblog.de/artikel/ni-rezensionen/rez-noerdlingen

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