Neue Deutungen alter Namen – Seidenberg

Der Ortsname Seidenberg

Walter Wenzel

Seidenberg, poln. Zawidów, ist ein kleines Städtchen in der östlichen Oberlausitz und liegt auf heute polnischem Staatgebiet. Bei der Untersuchung der Ortsnamen der provincia Zagȏst, zu der im Hochmittelalter diese Region gehörte, fand der Name keine Beachtung, was hier nachzuholen wäre (Wenzel 2015: 212-224).

   Die Überlieferung setzt im 12. Jh. ein: 1186 mons Syden Zydzin, 1188 Mons in Zagozd qui Syden vocatur, 1188 Syden, 1307 Sydenberg, 1338 Seydenburg, 1340 Sydenberk, Sydinberk, Zydinberg, 1341 Sydenberg (Seidenberg); 1946 Zawidów (Rospond/Borek/Sochacka 1970-2011: XVI 119 f.). Für den Namen werden zwei Erklärungen vorgeschlagen: 1.*Zidina, zu *zьdь, *zidь ʻMauer, Gebäudeʼ, vgl. tschech. zed, serbokroat. zid, zidina, zidati ʻbauenʼ. 2. *Sědina mit der Bedeutung ʻSitz, Siedlungʼ. Darüber hinaus verbanden manche Forscher den Namen mit der Wurzel žid- ʻwasserreiches Terrainʼ, ja sogar mit Żyd ʻJudeʼ. Das 1946 vergebene Zawidów beruht auf dem altpoln. RufN Zawid (Ebenda: 120).

   Alle hier vorgeschlagenen Deutungen sind aus mehreren Gründen nur schwer nachvollziehbar: Fraglich ist die Verbindung von *Zidina mit urslaw. *zьdь, daraus tschech. zeď, alttschech. zed ʻMauerʼ, dazu *zьdati, altksl. sъzьdati, sъziždǫ, russ. iteratives sozidat´ ʻerbauen, schaffenʼ. Gegen *Sědina spricht u. a., dass der anlautende stimmlose Spirant s gewöhnlich als Affrikate c eingedeutscht wurde und dass dann Schreibungen wie c, cz, sc zc u. dgl. zu erwarten wären. Der aso. Vokal ě  hat im Deutschen neben i auch die häufige Entsprechung e, wobei i gewöhnlich nicht diphthongiert wird. Zu keiner einzigen Erklärung werden Vergleichsnamen beigebracht.  

   Einen ganz anderen Weg beschritt Ernst Schwarz. Er erklärte urkundliches Sidin als sorb. Žideň aus dem PersN Židen (Schwarz 1961: 328). Gegen diese Deutung ist einzuwenden, dass unter den sorb. PersN ein Suffix en niemals vorkommt (Wenzel 1987-1994: II/2, 228f.). Zutreffen dürfte allein aso. *Židin ʻSiedlung des Židaʼ mit dem PersN als Kurzform von Židimir, Židislav oder ähnl. VollN mit dem Vorderglied aus urslaw. *židati,*žьdati (er)warten (Rymut 2003: 66). Diese Deutung bestätigen die tschech. Vergleichsnamen Židovice, dt. Seidewitz, Židovice, dt. Schidowitz, sowie zwei weitere Židovice, erklärt als ʻDorf der Leute des Židʼ, dazu noch Židněves, ursprünglich Židina ves ʻDorf des Židaʼ. Der PersN Žid ist 1387 überliefert (Profous 1947-1960: IV 839 f.). In Sachsen kommt mehrmals der OrtsN Seidewitz vor, so 1340 Sydewicz, nw. Leisnig (Wenzel 2017: 59 f.). Der Name wurde wahrscheinlich, so wie viele andere, aus Böhmen mitgebracht (Wenzel 2019: 180-238).

   Die Geschichte des Städtchens Seidenberg, aso. *Židin, heute poln. Zawidów, behandelt ausführlich Waldemar Bena in dem Buch „Polskie Górne Łużyce“ (Bena 2005: 488-496). Zu ergänzen bleiben einige Anmerkungen zum Frühmittelalter, als *Židin zum Gau Besunzane  gehörte. Dessen Kern zog sich beiderseits der Neiße von Görlitz bis nach Ostritz hin. *Židin und einige weitere Dörfer bildeten die südöstlichen Ausläufer dieses Slawengaues. Die ganze Region, die sich östlich des Landes der Milzane vom Neißetal bis zu Bober und Queis erstreckte, nannte man im hohen Mittelalter Zagȏst, aso. *Zagozd ʻLand hinter dem Waldeʼ  (Wenzel 2015: 192-224). Auf den beiden mehrfarbigen Karten zu Besunzane und Zagȏst wäre für Seidenberg jeweils das Zeichen „Stadt zur Orientierung“ durch das grüne Symbol „Jüngerer Ortsnamentyp“ zu ersetzen. Neu gedeutet wurden inzwischen die beiden schon beim Bayerischen Geographen (um 850) genannten Stammesnamen: Besunzane, als aso. *Běžunčane ʻLeute des Běžunkʼ, und Milzane, als aso. *Milčane ʻLeute des Miłkʼ (Wenzel 2019: 254-256, 258-259).

   Die beigefügte Karte zeigt die östlichen Ausläufer des Gaues Milzane, in den Quellen auch Milsca genannt, und den Gau Besunzane.

Literatur:

Bena, Waldemar (2005): Polskie Górne Łużyce. Zgorzelec.

Profous, Antonín (1947-1960): Místní jména v Čechách. V Bde. Praha [Bd. IV zusammen

   mit Jan Svoboda, Bd. V von Jan Svoboda und Vladimír Šmilauer].

Rospond, Stanisław/Borek, Henryk/Sochacka, Stanisława (Hg.) (1970-2011): Nazwy

   geograficzne Śląska, Bde. I-IV Warszawa-Wrocław, Bde. V-XVI Opole.

Rymut, Kazimierz (2003): Szkice onomastyczne i historycznojęzykowe. Kraków.

Schwarz, Ernst (1961): Die Ortsnamen der Sudetenländer als Geschichtsquelle. München.  

Wenzel, Walter (1987-1994): Studien zu sorbischen Personennamen. 4 Bde. Bautzen.

Wenzel, Walter (2015): Slawen in Deutschland. Ihre Namen als Zeugen der Geschichte.

   Hrsg. von Andrea Brendler und Silvio Brendler. Hamburg.

Wenzel, Walter (2017): Die slawische Frühgeschichte Sachsens im Licht der Namen. Hrsg.

   von Andrea Brendler und Silvio Brendler. Hamburg.    

Wenzel, Walter (2019): Die slawische Besiedlung des Landes zwischen Elbe und Saale.

    Hrsg. von Andrea Brendler und Silvio Brendler. Hamburg.

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