Ein weiterer altwestslawischer Ortsname vom Typ Poděúsy: Ablaß

Ein weiterer altwestslawischer Ortsname vom Typ Poděúsy: Ablaß

Bernd Koenitz

In den einschlägigen Kompendien wie zuletzt HONSa, auf seriös namenwissenschaftliche Weise nun auch auf der Webseite von Mügeln und bei Wikipedia erfaßt, kann wegen seiner scheinbar transparenten und damit sonderbaren Etymologie der sächsische Ortsname Ablaß – für ein Dorf südwestlich Oschatz, Ortsteil der Stadt Mügeln – Aufmerksamkeit wecken. Daß der Anklang an das entsprechende Appellativum nur auf einer lautlichen Mutation des Namens im Laufe seiner Nutzung im deutschen Munde und einer damit seit dem 16. Jahrhundert aufkommenden, den Gebrauch der neuen Namensgestalt stabilisierenden volksetymologischen Eindeutung beruht, wird aus der Beleggeschichte schnell klar: 1303 Opylos; 1334 Oplos; 1340 Apelos; 1350 Oppeloz; 1391 Applass; 1450 Opplas; 1495 Applas; 1510 Applas; 1533/34 Aplas; 1551 Oppeloz; 1590 Aplaß, Ablaß; dial. [ɑpls] (HONSa 2001 I:7) (Transkription nach API angepaßt – B.K.).

Der bisherige Deutungsversuch als „wohl ein ursprüngliches, zum Namen erhobenes aso. App. *oploz ‘Stelle, an der der Pflug nur schleift, nicht in den Boden eindringt’“ (Eichler/Walther 1966 I: 10f. und HONSa a.a.O.) ist (in Eichler/Walther 1966 a.a.O.) umsichtig mit slawischem Vergleichsmaterial gestützt. Dieses bietet aber doch in formaler und semantischer Hinsicht ein etwas diffuses Bild. Vor allem aber läßt der Ansatz einer Grundform *Oploz die in vier Belegen verzeichnete vokalische Brücke zwischen <p>- und -<l> außer Acht. Ein Vokaleinschub wäre hier doch wohl phonologisch kaum begründet, umgekehrt ein Ausfall des Vokals der unbetonten zweiten Silbe einer dreisilbigen Form aber ganz gewiß. Auffällig ist das „Beharrungsvermögen“ der Silbe –los. Die Zweisilbigkeit der Form stabilisiert sich offenbar spät, nach Ende des 16. Jahrhunderts. Wann frühestens die heutige dialektale Form mit Schwund des Vokals der letzten Silbe oral eingetreten ist, läßt sich nicht sagen. Entscheidend dürfte sein, daß in der literalen Tradition die Dreisilbigkeit lange bewahrt blieb.

Die Struktur läßt an Gaulis und Podelwitz und damit an einen zweigliedrigen Bewohnernamen denken; diese beiden Oikonyme wurden – als solche – wie folgt neu gedeutet (Koenitz 2019: 12):

Podelwitz, Dorf nö. Colditz: 1217 Podeluz; 1265 Podelosiz; 1268 Podlusiz; 1340 Podelos; [um 1360] Podolozicz; 1368 Podlas; 1445 Podelicz; 1473/74 Podlos; 1490 Podelitz; 1564 Podelwitz. Bisher (Naumann 1962: 156; Eichler 1985-2009: III, 85; HONSa: II, 190) als *Podłuž’e ›Bewohner unterhalb eines Sumpfes‹ gedeutet, dürften die changierenden Belegstrukturen vielmehr den altsorbischen Namen *Poděwlosi/*Poděwlosy ›die Haarwegmacher‹ (wohl: ›Leute, die ihr Haar verstecken‹), mit dem Zweitglied zu aso. wlos (ursl. *wolsъ, oso. włós, nso. włos, tsch. vlas, russ. volos) ›(Haupt-)Haar‹, verbergen. Wie in mehreren tschechischen Ortsnamen liegt dem Namen der Stamm des Verbs *poděti (tsch. podíti [veraltet] ›wohin tun/geben, verschwinden lassen‹, podíti se ›verschwinden, wohin geraten‹) zugrunde. Dieses Verb hatte die Allgemeinbedeutung ›wegtun; wegmachen‹. Unter anderem beruhen darauf  die Namen von vier Orten in Böhmen, die sodann auf  urslawisch *Poděwõsi, alttschechisch *Podě(w)úsi, zurückgehen – ›Leute, die den Bart wegmachen‹, zu *wõsъ ›(Schnurr-)Bart‹: Poděúsy, Poděvousy, Poděhusy, Podělusy; vgl. auch Poděbrady zu tsch. brada ›Kinn; Kinnbart‹ (Profous III: 393-395).

Gaulis Dorf w. Borna:1303 Jaules; 1356 Jaulas; 1381 Jaules, Jawlus; 1421 Gaules; (1432) K Gaulis; 1514 Gawlis; 1791 Gaulis; 1908 Gaulis; dial. [gɛ:wls]. Der bisher als unklar  bzw. schwer zu erklären geführte Name ist widerspruchsfrei erklärbar als pluralischer Bewohnername aso. *Jawowlosi/*Jawowlosy (oder evtl. [älter?] *Jawi-) ›die, die ihr Haar sehen lassen‹ zu aso. jawiti ›zeigen, sehen lassen, offenbaren‹ und *wlos ›Haar‹, ein motivantonymisches Gegenstück zu Podelwitz. – Nachdem man (ohne entsprechenden konkreten Vorschlag) gar eine vorslawische Herkunft in Betracht gezogen (Göschel 1964: 52) bzw. mit recht abwegigen Deutungen, teils beruhend auf der völlig unplausiblen These, es  müsse von Anlaut g ausgegangen werden (Eichler/Walther 2010: 169), operiert hatte, dachte ErnstEichler (1985-2009: II, 131) bereits an *jawiti, glaubte aber dazu offenbar *lěs als vermeintlich naheliegende Basis des Zweitgliedes nicht überzeugend unterbringen zu können. Unlängst setzte Walter Wenzel (2015: 253) ein Patronymikum *Jaw_lici an – zu einem PN *Jawola oder *Jawula, der auf der Basis *jaw– aus *jawiti beruhen würde – , das aber mit den Belegen wohl nicht vereinbar ist.

Bei Ablaß steht -<los> offenbar auch wieder für aso. *wlos. Es bietet sich an aso.*Opewlosi (G.  Opewlos) ← ursl. *Opwolsi zum Verb  aso. *o(b)peti, pnu ← ursl. *o(bъ)pẽti, -pьnõ  (oso. wopinać ›1. umspannen, 2. umwölben‹, tsch. o(be)pnout/o(be)pínat ›umspannen, umfassen, umklammern, umgürten, umranken, umwickeln, einfassen‹), zum Simplex ursl. *pẽti, *pьnõ (oso. alt pjeć, pnu, tsch. pnout, pnu usw. [allslawisch]) ›spannen‹ – demnach etwa ›Leute, die ihr Haar umwickeln/umhüllen/zusammenbinden‹. Wie im Falle von Gaulis und Podelwitz und weiteren schwand im Deutschen [w] vor [l]. Ablaß steht als zweigliedriger Bewohnername dem des Nachbardorfes Sornzig (mit dem zusammen es von 1994 bis 2011 eine Gemeinde bildete) zur Seite (aus aso. *Žornosěci, –ky ›Siedlung der Mühlsteinschläger‹).

Welche Art Haartracht im Falle von Ablaß den Bewohnern mit der Namengebung zugeschrieben wurde, läßt sich schwer sagen. Immerhin paßt der Name semantisch gut zu Podelwitz; nicht auszuschließen, daß *Poděwlosi, weniger konkret, den gleichen Umgang von Siedlern mit dem Haupthaar meinte wie *Opewlosi. Daß man die obere Region des Kopfes auf verschiedene (in den Augen der Nachbarn auffällige) Weise behandeln konnte, wurde auch mit dem westslawischen Ortsnamen (ursl.) *Poděčeli (G. *Poděčelъ), zu *poděti (s.o.) und *čelo ›Stirn‹ thematisiert: ›Siedlung der Leute, die die Stirn wegmachen‹. Es bleibt unklar, ob die Siedler (angeblich) die Stirn mit einer Kopfbedeckung, einem Stirnband oder mit ihrem Haar verhüllten. In der Altwestsorabia bezeugt ist dieser Name als der einer Ortswüstung Poditschel (ö. Zeitz: 1296 Podizchil; 1350 Poditschel; 1350 Potschdorf  – HONSa: II, 192, mit weiterer Literatur), aso. *Poděčel (G.) (bisher fehlgedeutet als ›Siedlung an der Stirnseite‹, Bildung zum Präfix *pod– ›unter‹  und *čelo  ›Stirn‹, auch ›Felswand, Vorgelände‹ – HONSa a.a.O., [modifiziert von] Walter Wenzel 2013: 118) und  in der tschechischen Toponymie mit Poděčely (Profous: III, 393f.) (vgl. Koenitz 2019: 12).

Literatur:

Göschel, Joachim (1964): Die Orts-, Flur- und Flußnamen der Kreise Borna und Geithain, Böhlau.

Koenitz, Bernd (2019): Pochad mjena Lipska je ryzy słowjanski, in: Rozhlad 2019/1, 9-13.

DS = Deutsch-slawische Forschungen zur Namenkunde- und Siedlungsgeschichte.

Eichler, Ernst (1985-2009): Slawische Ortsnamen zwischen Saale und Neiße: Ein Kompendium, 4 Bde, Bautzen.

Eichler, Ernst; Walther, Hans (1966): Die Ortsnamen im Gau Daleminze, Bd. I (DS 20), 3 Bde, Berlin.

Eichler/Walther (2010): Alt-Leipzig und das Leipziger Land, Leipzig.

HONSa (2001) = Eichler, Ernst; Walther Hans (Hg.): Historisches Ortsnamenbuch von Sachsen (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte Bd. 21), Berlin 2001.

Naumann, Horst (1962): Die Orts- und Flurnamen der Kreise Grimma und Wurzen (= DS 13), Berlin.

Profous (1954-1960) = Profous, Antonín: Místní jména v Čechách: Jejich vznik, původní význam a změny. Díl I-V. Praha. [Teil IV fertiggestellt von Jan Svoboda, Teil V bearb. von Jan Svoboda und Vladimír Šmilauer].

Wenzel, Walter (2013): Neue Deutungen altsorbischer Ortsnamen zwischen Saale und Neiße, in: Lětopis 60, 2, 106-129.

Wenzel, Walter (2015): Slawen in Deutschland, Ihre Namen als Zeugen der Geschichte, baar.